Leonhard Wimmer - Reisebericht

Leonhard Wimmer

Reisebericht vom 30.10.1940 bis 18.2.1947

Als Soldat in Rußland und Afrika, als Kriegsgefangener in den USA und in England.

Text aus dem Buch:

Das Marschieren war nichts anderes mehr als ein qualvolles Sich-vorwärts-Schleppen unter unsäglichen Mühen. Dabei mußten wir immer wieder bei unseren drei Küchen- und Troßwägen schieben helfen. 9.11. Bei entsetzlichem Schneegestöber 18 km nach Nikolskoje. Kein warmes Essen. 11.11. 17 km nach Algowa. 12.11. Bei grausiger Kälte (ohne jede Winterbekleidung!) über Tschern, Skuratowo nach Malaja (22 km). 13.11. Grimmige Kälte beim Marsch nach Selesnjow-Kolodnes. Immer wieder als Schiebekommando eingesetzt. Am 14.11. weiter nach Spasskoje, 15.11. 20 km nach Pokrowskoje. Die Kälte hatte heute etwas nachgelassen. 16.11. nach Ogarewo, 18.11. nach Wolowo (30 km) und am 19.11. weiter über 25 km nach Rogatschi und Bogorodizk. Am 26.11. Zwölf km Marsch nach Wysotskoje und der Stadt Uslowaja. Diese kleine Stadt ist der östlichste Punkt, an dem ich war und den auch der Mittelabschnitt jemals erreicht hat. Uslowaja lag in einem spitzen Keil, der sich in die russische Front vorgeschoben hatte. Uslowaja liegt etwa 200 km südlich von Moskau. Hier war der Vormarsch im Mittelabschnitt - etwa 2500 km zu Fuß - endgültig zu Ende. Blickt man diese Strecke zurück, war es nichts anderes als unerträgliche Strapazen, glühende Hitze, klirrende Kälte, Hunger und ab September schlechtes Essen, meist Graupen, von Panzern zermalmte Leichen, Pferdekadaver, verhungernde russische Gefangene. Aber die nächsten Wochen sollten noch schlimmer werden. Am 6. Dezember wurde unser Ersatzbataillon aufgelöst und wir wurden auf die Kampfkompanien verteilt.

In der Zwischenzeit hatte der Russe frische sibirische Truppen an unserem Mittelabschnitt aufgestellt. Am 11. Dezember griffen sie urplötzlich an. Wir mußten Uslowaja fluchtartig verlassen. Was wir in diesen Tagen bis Ende des Jahres mitgemacht haben, ist unbeschreiblich. Keiner kam mehr aus seinem schäbigen Mantel heraus. Die Flucht wurde nur unterbrochen von nächtlichen vergeblichen Gegenangriffen, Posten stehen bei 45 Grad Kälte.

Bei einem Gegenangriff am 28.12. lagen wir auf der schneebedeckten Ebene bei Karlowa. Mein Gewehr war eingefroren und ich konnte keinen Schuß abgeben. Ich steckte also meinen Kopf in den Schnee, um vor den Granatsplittern, von denen einer meinen Stiefelabsatz traf, sicher zu sein. Als ich einmal aufblickte, war der Schnee um mich herum geschwärzt, von den unseren keiner mehr da und ich sah, wie ein Russe auf mich zulief. Ich rannte wie besessen zurück und warf im Laufen mein Sturmgepäck weg. Atemlos kam ich bei meiner Einheit an.

In diesen Tagen um Weihnachten hatte ich mir die Füße gefroren und wurde in das Divisionslazarett geschickt. Was ich dort an Elend antraf, kann man nicht beschreiben.

Am 1.1.1942 wurden wir auf offenen LKW vom Divisionslazarett in das Lazarett in Orel gebracht. Jeder dachte, nichts wie raus aus der Hölle. Am 3. Januar wurden wir in das Lazarett in Gomel verlegt und vom 4. bis 8. Januar fuhren wir in Viehwägen nach Radom in Polen.

Völlig ausgehungert habe ich dort auf einen Sitz dreimal hintereinander Mittag gegessen und 20 Stück Kuchen, was mir heute selbst nicht mehr glaubhaft erscheint. Am 13. kam ich vom Lazarett in Radom in das Lazarett in Frankfurt am Main, wo ich wieder einen unglaublichen Appetit entwickelte. Am 31. Januar sollte ich zur Genesungskompanie in Brannenburg kommen. Das wollte ich aber aus persönlichen Gründen nicht. Ich fälschte mein Soldbuch und schrieb "Inf.Ers.Btln.179 Traunstein" statt 199 Brannenburg. Aber der Marschbefehl war schon nach Brannenburg geschrieben. Dort war noch, so hoffte ich, Heinrich Mühlthaler - der Grazn Heinrich, der mit mir in der gleichen Klasse war - Bataillonsoberfeldwebel und der erledigte die Sache für mich nach Traunstein. Der Hauptfeldwebel in der Genesungskompanie in Traunstein hatte zwar eine mächtige Stimme, war aber ein seelenguter Mensch. Er hat mir viele, viele Tage fälligen geschärften Arrest erspart. Einmal traf er mich am Sonntag abends im Zug in Wiesmühl. Ich hatte keinen Urlaubsschein und natürlich erst recht keine Zivilerlaubnis. Er unterhielt sich mit mir, als wenn überhaupt nichts wäre. Ich kam mir in Zivil wie nackt vor. Es hatte auch keine weiteren Folgen. Am nächsten Wochenende reichte ich wieder einen Urlaubsschein ein - den gab es nämlich nur alle vierzehn Tage - und er schrieb von sich aus darauf "Zivilerlaubnis".

Noch eine Begebenheit anderer Art während meiner Traunsteiner Zeit. Beim Stalleicher Eck begegnete mir - ich war natürlich in Uniform - ein höherer Parteifunktionär, keine Ahnung welchen Rang er hatte, ein "Goldfasan", wie wir die Parteibonzen nannten. Ich ging vorbei, natürlich ohne zu grüßen, er stellte mich barsch zur Rede und ich sollte vor ihm stramm stehen. Ich ließ mich nicht einschüchtern und stand mit gespreizten Beinen vor ihm. Da fing er an zu brüllen, ich solle ihm mein Soldbuch zeigen, was ich ablehnte, weil ich einem "Zivilisten" das Soldbuch nicht zeigen darf. Ich kenne seine Uniform nicht und habe sie auch in Rußland nicht gesehen. In der Zwischenzeit hatte sich eine kleine Menschenmenge um uns gebildet und als er brüllte, er werde mich bei meinem Hauptmann melden - er wußte ja nicht meinen Namen - rief eine Frau: "Lassen's doch den Soldaten in Ruah!" Dann zog er ab. Passiert ist mir nichts.

Am 24. August wurde ich "kv" (kriegsverwendungsfähig) geschrieben und mir stand wieder der Transport nach Rußland bevor. Ich hätte gern ein Bein oder einen Arm geopfert, um dem zu entgehen. Aber es kam Gott sei Dank anders.

Am 31. August wurden zehn Freiwillige gesucht für das Afrikakorps. Für freiwillige Sachen bin ich sonst nicht leicht zu haben, aber hier gab es für mich kein Überlegen. Ich rannte zum Stabsarzt - Dr. Gerner aus Geiersnest, den ich kannte - und der schrieb in mein Soldbuch, ohne mich auch nur im geringsten zu untersuchen "tropendienstfähig". Ich war unter den zehn der erste auf der Liste. Am 31.8. fuhren wir zehn "Auserwählte" (von 400!) nach Landau in der Pfalz. Dort erwartete uns allerdings eine richtige "Schleiferei", wie wir sie aus der Rekrutenzeit kannten. Vor allem tat sich da ein blutjunger Unteroffizier hervor. Hier lernte ich wieder einen Hauptfeldwebel kennen, wie er in dem Buch "Null-Acht-Fuchzehn" beschrieben ist. Nur ein Beispiel. Während meiner Genesungszeit hatte ich geheiratet. Bevor ich nun nach Afrika kommen sollte, besuchte mich natürlich noch meine Frau. An dem Tag, als sie in Landau ankam, wurde einem Unteroffizier angeblich eine Uhr gestohlen. Die ganze Kompanie erhielt Ausgangssperre. Ich ging zum Hauptfeldwebel und sagte ihm, daß heute meine Frau gekommen ist und daß ich die Uhr nicht gestohlen habe. Da warf er mich hinaus. Ich ging zum Leutnant, der sagte mir, ich solle zum Hauptfeldwebel gehen, ihm einen schönen Gruß sagen, er soll mir den Urlaubsschein geben. Da warf er mich zum zweitenmal hinaus. Ich ging noch mal zum Leutnant, der brüllte den Hauptfeldwebel zusammen. Bei meinem dritten Besuch beim Hfw warf er mir den unausgefüllten Urlaubsschein vor die Füße. Unterschrieben hat ihn der Leutnant auf unbestimmte Zeit. Ich bin nur noch erschienen, um zu erfahren, wann wir abtransportiert werden. Man muß sich das vorstellen: so ein Etappenschwein hätte mich meine Frau nicht wiedersehen lassen, obwohl ich auf bestimmt lange Zeit nicht mehr heimkäme (es wurden dann mehr als viereinhalb Jahre).

Am 26. September wurden wir nach Bitche in Lothringen verlegt, wo wir afrikamäßig eingekleidet wurden und die Tropenausrüstung erhielten. Am 10. Oktober wurden wir verladen. Ab gings über Karlsruhe, München, Traunstein, Graz, Agram, Belgrad, Nisch, Skopje, Saloniki nach Athen, wo wir am 18. Oktober ankamen. Am 20.10. gegen acht Uhr früh wurden wir in die alten Jus verladen. Wir standen Todesängste aus, denn am Tag zuvor hatten die Engländer alle 17 Jus über dem Mittelmeer abgeschossen. In Kreta hatten wir Zwischenlandung und nach zwei Stunden ging es in geringer Höhe noch mal 1,5 Stunden - die wurden lang - nach Derna, wo wir glücklich landeten. Ich kann mich noch erinnern, daß ich nach der Landung dachte: Da bringt mich jetzt kein Mensch mehr heraus.

Nun sollten wir per Anhalter nach El Alamein. Das dauerte natürlich einige Tage, da ich zudem keinen besonderen Drang nach Heldentaten hatte (den haben sie uns beim Militär gründlich ausgetrieben). Am 1. Tag kam ich bis 50 km vor Tobruk. Am 22.10. kam ich nicht viel weiter, weil ein Wolkenbruch sondergleichen alle Straßen und Wadis in ein tobendes braunes Meer verwandelte. Ebenso schnell war aber die Flut wieder weg. Am 23.10. kam ich bis 50 km nach Tobruk. Am 24. über Bardia den Halfayapaß an der lybisch-ägyptischen Grenze hinunter bis Dschebat, 30 km vor Marsa Matruk, am 25.10. über El Daba nach El Alamein, wo ich als Bewachung mit fünf anderen beim Arbeitswagen Rommels eingeteilt wurde. Mit meinem Maschinengewehr lag ich unmittelbar am Meer. Ich hatte wieder Pech und kam gerade zum Rückzug rechtzeitig nach El Alamein. Bereits zwei Tage nach meiner Ankunft eröffneten die Engländer ein ununterbrochenes Artilleriefeuer, das bis über den 2. November anhielt. Am 3.11. begann die Flucht. Anders kann man den Rückzug nicht nennen. Alles entbehrliche an Kleidung, Zeltausrüstung und Lebensmitteln mußten wir von den Wägen werfen. Vom 4. bis 7. November irrten wir scheinbar ziellos in der Wüste umher, immer von englischen Tieffliegern verfolgt. Am 8.11. kamen wir an die Küstenstraße 30 km vor dem berüchtigten Halfayapaß. Alle Fahrzeuge mußten sich in die Kolonne, die etwa acht km lang war, einordnen. Ich sehe heute noch einen Leutnant vor mir mit Stoppelbart, in der einen Hand die Schnapsflasche, in der anderen die Pistole, die jeden bedrohte, der aus der Kolonne ausbrechen wollte. Vor dem Paß kamen wir nur schrittweise vorwärts, während uns der Engländer mit Bomben und Maschinenfeuer gnadenlos eindeckte, auch bei Nacht. Es war entsetzlich, weil man sich nicht wehren konnte. Als wir endlich am Fuß des Passes waren, sprangen wir vom Wagen und liefen den Paß hinauf, wobei wir unseren LKW schoben, damit er ja nicht stecken blieb. Oben angekommen ging die Flucht weiter. Am 10.11. waren wir bereits in Tobruk und am 13.11. 50 km westlich von Derna. Am 14.11. erreichten wir Martino, am 15. Barce und Baracca und am 16.11. fuhren wir durch die Cyrenaika bis 25 km westlich von Bengasi. Die Engländer warfen Flugblätter ab mit dem trostreichen Vers:

"Tapferes keines Afrika Korps,
du kommst uns so verlassen vor,
links die Wüste, rechts das Meer,
die Heimat siehst du nimmermehr."

In Bengasi fuhren wir durch einen unermeßlichen Wald mit Tausenden und Abertausenden von Palmen, während wir von El Alamein bis Tobruk nicht einen einzigen Baum zu sehen bekommen hatten. An den Häusern der italienischen Siedler sieht man großmäulige Sprüche der Faschisten: "Duce, vinceremo" (Duce, wir werden siegen), "Vincere e vinceremo" (siegen und wir werden siegen) und "Duce ha sempre ragione" (Der Duce hat immer recht). Im totalen Durcheinander des Rückzugs fielen natürlich auch Verpflegungswägen aus. Ich habe mich praktisch einmal mehrere Tage von Datteln ernährt, die ich einem Araber abgekauft habe. Einmal traf ich einen Kameraden aus Landau, der mir zurief, ich solle aufsteigen. Er fuhr einen Regimentsverpflegungswagen und den einen Tag, den ich bei ihm war, stopfte ich mich voll mit Gänseleberpastete, Dosenfleisch und trank dazu Sekt und Dosenmilch. Am 18. November weitere 250 km Rückzug durch Ghemines, Braca, Agedabia und El Agheila. Am 23. November kamen wir zum km-Stein 150 westlich El Agheila. Ich gehörte keiner Einheit an, weil der Wachzug Rommels sich natürlich aufgelöst hatte, und ich lebte praktisch im luftleeren Raum. Am 29.11.1942 sind wir bereits 149 km westlich von Nufilia. Am 30.11. wurde ich zum Stab der 90. leichten Afrikadivision versetzt und als Rechnungsführer verwendet, wo ich mit dem Zahlmeister, einem Federfuchser, manchen Streit ausfocht. Bei unseren notwendigen Fahrten zum Ia, meist mit dem Feldwebel, haben wir uns meist angesoffen und einmal habe ich die Kasse unter dem Autositz liegen lassen. Stunden später suchte ich die Kasse. Der Wagen mit der Kasse war mit dem Zahlmeister unterwegs. Wenn der die Kasse gefunden hätte, hätte ihn der Schlag getroffen. Ich ließ mir einen Fahrer mit Wagen geben, suchte und fand das Auto, in dem aber der Zahlmeister nicht saß, robbte mich an den Wagen und zog die Kasse heraus.

Den Heiligen Abend verbrachten wir in Ruhe 63 km westlich Buerat. Mit den Engländern war eine zweitägige Feuerpause vereinbart. Wir konnten in Zelten Kerzen anzünden und durften nachts auch im Freien rauchen. Einmal hat ein englischer Flieger das Zeltdach des Wagens, auf dem ich saß, in Brand geschossen. Ich sprang gerade noch rechtzeitig vom fahrenden Wagen. Nach einigen Wochen verhältnismäßiger Ruhe ging es jetzt am 17.1.1943 weiter über Garibaldi, Sliten, Leptis Magna, Homs bis Littoriano 85 km von Tripolis entfernt. Am 19.1. nachts wurden wir auf der Fahrt ununterbrochen bombardiert. Wir verbrachten die Nacht in einem Kaktusfeld. Am 20.1. waren wir in Fatma, Tripolis wurde widerstandslos geräumt. Am 22.1. erreichten wir über Sabrathe und Zuara die tunesische Grenze. Auf einem riesigen Stein steht die gemeißelte Inschrift: 1822 km bis zur ägyptischen Grenze. Am 24.1. in Bengardane. Da die Amerikaner im Dezember im Norden Tunesiens gelandet waren, konnten wir nun bald, wie Rommel sagte, nach allen Seiten schießen. Am 27.1. ging es nordwärts 190 km weiter bis 35 km nördlich Gabes. Heute die Nachrichten vom letzten Widerstand in Stalingrad. Da wäre ich auch dabei gewesen, wenn ich nicht nach Afrika gekommen wäre.
3.2. Nachricht vom Fall Stalingrads.


ISBN 3934785158