Hans Mayer - Lenz

Hans Mayer

Lenz

Georg Büchner (1813 - 1837) schrieb die Erzählung 'Lenz' nach dem Bericht des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin (1740 - 1826), bei dem sich der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 - 1792) im Jahr 1778 aufgehalten hatte. 1967 drehte George Moorse den Film 'Lenz'. Ein Film kann sicherlich nicht den literarischen Stil trans­formieren. Trotzdem interpretiert ein Film zugleich die Form und Gestaltung des Texts mit technischen Mit­teln und Bildern aus der realen Welt. Nicht nur die Handlung der Vorlage wird beibehalten, es werden auch Äquivalen­te für stilisti­sche Eigenarten des Texts gefunden. Uns interessieren die Ver­änderungen, die bei der Vermitt­lung von Literatur durch den Film erfolgen.

Ein Text - Film - Vergleich zeigt, daß die Aktionslogik verzögernde Teilsätze nicht verfilmt werden. Statt differenziert dargestellter Bewegungen und Gegenbewegungen in Büchners Erzählung führt der filmische Diskurs in einer gleichmäßigen Linie bis zum Ende.
Deutlicher treten im Film mögliche Ursachen für die Entwicklung von Lenz bis zum Wahnsinn hervor durch zusätzliche Informationen, die aber den Handlungsverlauf nicht beeinträchtigen: auf die gesellschaftliche Außenseiterrolle von Lenz im Urteil der Zeitgenossen weisen die Reime von Kaufmanns Braut (E 147 - E 149) hin und auf die unerfüllte Liebe zum weiblichen Geschlecht das Schornsteinfegerlied. Stärkeren Einblick in Oberlins Bewußtsein und die bestimmende Institution Kirche gibt der Film durch die Personenkonstellation in der Kirche, durch die Identifikation von Lenz mit Jesus, durch den Brief Oberlins an Scheideg­ger u.a.
Die vom Erzähler als möglich erwähnten Ursachen sind im Film zwar etwas mehr hervorgehoben, ohne aber eine bestimmende Begründung für die Verfassung von Lenz liefern zu können. Die Kamera beobachtet Lenz - ähnlich dem Erzählstil Büchners - in seinen äußeren Bewegungen und sieht die Welt aus dem Standpunkt von Lenz.
Ein Unterschied zwischen Text und Film besteht in der Darstellung der inneren Welt von Lenz. Während der Erzähler das Verhalten von Lenz im Wechsel von Innen- und Außensicht referiert und seelische Vorgänge durch Bezüge zur Landschaftsbeschreibung andeutet, muß Moorse den Möglichkeiten und Zwängen des Mediums gemäß alle erzählten Verhaltensweisen in sinnlich Wahrnehmbares umsetzen. Abstrakte Begriffe wie Grauen, Furcht, Verzweiflung müssen konkret ausgedrückt werden durch körperliche Bewegung und Gestik. Büchner hat es zu seiner höchsten Aufgabe erklärt, "Der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen".
Moorse ist dieser Intention im logischen Handlungsablauf gefolgt; dazu mußte er sich in seinem Medium allerdings anderer Zeichen und Codes bedienen. Seine Verfilmung besitzt neue von der Vorlage unabhängige ästhetische Qualitäten. Die in der Filmanalyse erkannten Konstruktionsprinzipien und die handlungslogisch adäquate Umsetzung von Büchners Erzählung zeigen Moorses 'Lenz' als komplementäre Realisation des Texts. Der Film ist kein Ersatz für die Vorlage, aber eine Anregung zu einer intensiven Lektüre.


ISBN 3927966622