Es war kein Kinderspiel

Inge Fleischer

Es war kein Kinderspiel

Das Leben einer Leistungssportlerin

In Hermannstadt, einem Städtchen in Siebenbürgen, am Fuß der Karpaten, von den Bergen geschützt und von Weinbergen und leuchtenden Kornfeldern umgeben, kam am 19. April 1965 ein kleines Mädchen zur Welt. Melitta - so wurde das Kind genannt. Sie wuchs auf in Geborgenheit, umsorgt von ihrer Mutter Inge, vom Vater Richard, ihren Großeltern Ka­tharina und Michael. Ihr Onkel Rudolf und seine Frau Ilse wohnten im selben Haus, in der Veilchenstraße 4, das die Großeltern gleich nach dem Ende des zweiten Weltkrieges gebaut hatten.
Mit sechs Jahren kam sie in die Grundschule Hermannstadt. Eines Tages, in der Unterrichtspause, sagte ihre Lehrerin:
"Alle Mädchen sollen sich gleich in den Turnsaal begeben. Zwei Trainerinnen vom Hermannstädter Turnerbund sind gekommen, um ein paar talentierte Mädchen auszubilden. Also schnell, macht, daß ihr hin kommt."
Als die Trainerinnen dann in den Turnsaal eintraten, standen die Mädchen schon alle, mit schwarzer Turnhose und weißem Turnhemd bekleidet, in einer Reihe aufgestellt. Es begann eine ganz normale Turnstunde, mit Aufwärmübungen, Purzelbaum vorwärts oder rückwärts, Brücke und sonstige Übungen, die man im normalen Schulunterricht machte. Die zwei Trainerinnen beobachteten die Mädchen genau, dann wählten sie zehn von ihnen aus und bestellten sie mit ihren Eltern für den nächsten Tag in die große Turnhalle des Sportvereins. Nach dem Schulunterricht kam Melitta mit glänzenden Augen nach Hause gerannt: "Mami, denk dir, morgen soll ich zur Turnschule hingehen."

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Am 6. Dezember war es dann so weit. Um 20 Uhr trafen die rumänischen Mädchen in der Trainingshalle ein. Es folgte eine ausgiebige Aufwärmphase, wobei der Trainer ununterbrochen redete, was und wie jeder an den Geräten nochmal einturnen soll. Es gab die letzten Ratschläge und noch einmal Dextrose. Nadia konnte der Mannschaft nicht helfen. Sie konnte nicht mitmachen, weil ihre Hand in einer dicken Bandage steckte, wegen einer Infektion am linken Handgelenk und am Daumen. Karolyi wechselte sie auch nicht mit einer der Reserven aus, sondern ließ sie von Gerät zu Gerät marschieren, immer der Mannschaft nach. Um 21.40 Uhr, in der letzten Serie, starteten dann die rumänischen Mädchen. Nach den Regeln hatten auch die Geräte eine Folgereihe: Sprung, Stufenbarren, Schwebebalken und als letztes der Boden. Da die UdSSR sich nach der Pflicht auf dem 1. Platz befand, begann sie diesen Wettkampf am Sprung und die Rumänen am Stufenbarren. Die Russinnen waren der härteste Gegner der Rumäninnen, jedoch durfte man auch die DDR nicht außer Acht lassen. Am Stufenbarren gab es keine Probleme. Melitta kam als 4. an die Reihe und wurde mit 9,80 bewertet. Dann aber kam der schreckliche Balken. Sie startete als dritte. Aufgang durch Salto vorwärts gehockt, kein Wackler, eine schön ausgearbeitete artistische Linie, mit einer wunderschönen Pirouette, dann der Flick-Spreizsalto, auch ohne jede Unsicherheit, die Sprungreihe mit drei hintereinander liegenden Sprüngen, dann die halbe Drehung und Salto vorwärts mit einem kleinen Schritt (das war ein Fehler), die Ausübung des Salto rückwärts gehockt aus dem Stand war auch kein Problem, nun war nur noch der Abgang: Radwende und Doppelsalto gehockt in den sicheren Stand. Spannend wartete man auf das Erscheinen der Note: 9.80. Als fünfte kam Emi an die Reihe. Sie turnte fehlerfrei, bis auf den Flick-Spreizsalto, wo sie vom Balken abging. Karolyi machte ein finsteres Gesicht, er kochte innerlich. Nun konnte nur noch Nadia der Mannschaft helfen, weil Emi einen Fehler gemacht hatte. Und tatsächlich, ihre Übung war wie aus dem Bilderbuch, besser ging es gar nicht und das, obwohl ihre Hand fürchterlich schmerzte. 9,95 bekam sie als Note, damit hatte sie ihre Mannschaft zunächst gerettet. Am Boden startete Melitta als vierte. Erste akrobatische Bahn: Radwende, Flick-Flack und Doppelsalto gebückt in den perfekten Stand. Die Menschen klatschten rhythmisch in die Hände, zu der Musik, eine ganz lustige Musik und eine ganz lustige Übung dazu. Melitta grinste über das ganze Gesicht. Dann die zweite Bahn: Radwende, Flick-Flack, 90 Grad Schraube, gut ausgedreht und in den Stand. Letzte Bahn, Anlauf, Radwende, Flick-Flack und Doppelsalto gehockt mit einem Schritt. Bewertung 9,90. Nun hatten die Mädchen die Russinnen eingeholt und befanden sich in Führung, obwohl Nadia nur beim Balken mitgeturnt hatte. Doch sie hatten noch ein Gerät vor sich, also gab es noch keinen Grund zu feiern.
Der Sprung kam als letztes Gerät. Wenn jetzt etwas schief gehen sollte, konnte Nadia nicht mehr helfen. Dem Trainer sah man die Anspannung an. Er beruhigte seine Mädchen so gut es ging, so sanft hatte er noch nie mit ihnen gesprochen. Die Russinnen konnten immerhin noch aufholen. Marilena war die erste, sie hatte die leichtesten Sprünge, und sie machte ihre Sache gut. Als zweite kam Rodica, die beide Sprünge nicht in den sicheren Stand brachte. Dumitrita war eine gute Springerin, sie hätte es wahrscheinlich auch im Traum geschafft und Emi machte ihre zwei Tsukaharas auch gut. Melitta kam ganz zum Schluß. Wenn sie bloß nicht jetzt schwache Nerven zeigte! Sie puderte sich die Hände mit Magnesium ein und sah wirklich blaß aus. Sie war so schwach geworden, daß die Augen in zwei tiefen Höhlen lagen. Das grüne Licht blitzte auf, das Zeichen, daß sie zum ersten Sprung antreten durfte. Noch ein tiefes Durchatmen, loslaufen, Absprung vom Brett, 180 Grad Drehung in der ersten Phase des Sprungs, dann in der zweiten Phase 180 Grad Drehung und Salto vorwärts gehockt, in den sicheren Stand. Melitta war die erste Turnerin, die diesen Sprung wagte. Noch niemand vorher hatte diesen Sprung gezeigt. Die Zuschauer waren begeistert. Sie applaudierten wie verrückt und riefen immer wieder Melittas Namen. Jetzt hatte Melitta rosige Backen und ein Lächeln lag in ihrem Gesicht. Sie hatte noch einen Sprung zu springen, aber das war jetzt nicht mehr wichtig, da nur ein Sprung, der bessere von beiden bewertet wurde. Der erste wurde mit 9,90 bewertet. Der zweite Sprung gelang genau so gut wie der erste Sprung und wurde ebenfalls mit 9,90 notiert. Jetzt galt es abzuwarten, was die zwei letzten Russinnen machen würden. Natalia Saposchnikowa war an der Reihe und fiel gleich bei der ersten akrobatischen Bahn, beim Doppelsalto gebückt, auf die Nase. Damit schon bereits ein halber Punkt weg und normalerweise konnte nun nichts mehr das Resultat ändern. Nachdem auch Nelly Kim, die beste Turnerin der russischen Riege, ihre Übung beendet hatte, stand es endlich fest: Rumänien siegte mit 389,550 Punkten, die UdSSR folgte mit 388,925 und Platz drei erreichte die DDR mit 388,075 Punkten. Die Mädchen aus Rumänien hatten zum ersten Mal in der Geschichte des Turnens den Russinnen den Weltmeistertitel abnehmen können. Der Sieg war perfekt. Ihre Gesichter strahlten vor Freude, Herr Karolyi umarmte eine nach der anderen und so fest, daß sie nach Luft schnappten. Sie heulten, sie lachten, sie tanzten, die Freude war unbeschreiblich groß. Alle Zuschauer im Saal hatten sich erhoben und klatschten in die Hände. Nur die Russinnen saßen da, ganz traurig und sahen ungläubig auf die große Anzeigetafen, auf der stand: Rumänien Weltmeister 1979.


ISBN 3927966401