Erinnerungen an Traunstein

Werner Fritz

Erinnerungen an Traunstein

Kindheit und Jugend eines Einundvierzigers

Je weiter ich mich von der Kindheit entferne und in die Jugendzeit komme, desto rarer werden die Erinnerungen, die der Rede wert sind und deren Schilderung einen gewissen Unterhaltungswert hat. Ich will versuchen, einige herauszugreifen, die dieser Anforderung noch gerecht werden. Nach der vierten Klasse Volksschule wechselte ich zur Oberrealschule über, so hieß sie jedenfalls damals, beziehungsweise 'Gymnasium mit Oberrealschule' oder so ähnlich. Meine Jahre bis zum Abschluß der mittleren Reife im Jahre 1958 waren gekennzeichnet durch meinen übermächtigen Hang zur Faulheit. So gut wie nie machte ich Hausaufgaben dort, wo sie der Bezeichnung nach zu machen gewesen wären, nämlich zu Hause, sondern stets eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn, indem ich sie von Mitschülern abschrieb. Die damalige Solidarität unter diesen wäre heute, im Zeitalter des Egoismus, auch nicht mehr vorstellbar. Stets am Rande des Existenzminimums bewegten sich meine Fähigkeiten in Mathematik, Physik und Erdkunde. Gerade letzteres zeigt meine Abneigung gegen jedwedes Auswendiglernen von Fakten, denn nichts anderes war Erdkunde damals. Soundsoviel Tonnen Getreide, Wolle oder Erz produziert oder fördert dieses und jenes Land jährlich; mir dergleichen zu merken, war mir zuwider, und ich verweigerte sowohl die häuslichen Studien über diese Themen als auch die Teilnahme am Unterricht. Lieber bohrte ich mit einem Nagel in wochenlanger Kleinarbeit ein Loch durch die Platte des Schülerpults. An unseren Lehrern war im Großen und Ganzen nicht viel auszusetzen. Manche waren uns gleichgültig, andere respektierten wir, einen fürchteten wir gar und mit anderen trieben wir Schindluder. So mit einem Mathematiklehrer, der sich in keiner Weise durchsetzen und Respekt verschaffen konnte und in dessen Unterrichtsstunden die Klasse wahre Tumulte veranstaltete. Ich nahm daran nicht teil, weil mir der Lehrer leid tat. Seine Schwäche war so offensichtlich, daß ich es als menschlich nicht vertretbar fand, diese so rücksichtslos auszunutzen. In besonders guter Erinnerung ist mir mein Deutschlehrer geblieben, Dr. Alois Guglweid. Er wurde von allen Schülern ob seiner augenscheinlichen Intelligenz zumindest respektiert, wenn nicht geachtet wie von mir. Seine Miene zeigte stets das fast unmerkliche Lächeln des Verstehenden, der um die Schwächen und Unzulänglichkeiten seiner Mitmenschen weiß. Was die deutsche Sprache betrifft, war er unbestechlich und kannte keine Gnade. Es kam meines Wissen nie vor, daß er eine Arbeit mit der Note Eins ausgezeichnet hätte, die Voraussetzung hierfür wäre die reife Leistung eines Schriftstellers gewesen. Einmal hätte ich es jedoch beinahe geschafft. Als Hausaufgabe forderte er eines Tages einen Aufsatz an über das Thema 'Wie ich einen Sonntag verbringe' oder so ähnlich. Was ich hierzu ablieferte, enthielt schon deutliche Hinweise auf meine Neigung zur Satire. Bei der Vorstellung der abgelieferten Arbeiten las er dann meinen Aufsatz der Klasse vor, und ich erinnere mich noch ziemlich wortgenau an seinen Kommentar, als er das Blatt sinken ließ: „Also, es ist doch erstaunlich, was unsere Jungs für Aufsätze schreiben! Ich habe mir lange überlegt, ob ich das mit einem Einser benoten soll. Aber es ging dann doch nicht, weil ein paar Kommafehler drin sind.“ Im Juli 1958 hatte ich es schließlich geschafft, die ungeliebte Schule als etwas zweifelhafter Inhaber der Mittleren Reife hinter mich zu bringen. Zur Feier dieses Ereignisses begab sich die ganze Klasse eines Abends in den Hanslwirt, den ich nach dem Genuß von sechs Halben Bier verließ und mehr oder weniger geradlinig nach Hause strebte. Dort wurde mir alsbald elend schlecht und . . .

Später leistete ich mir nur noch einmal einen Vollrausch, der dann der letzte meines Lebens bleiben sollte. Ich holte ihn mir auf jenem Berg, auf den der Aufstieg der Sage nach viel weniger beschwerlich verläuft als der Abstieg, nämlich dem Nockherberg zu München, weltbekannt als Ausschankort des Salvator-Starkbiers. Die Linie neun hielt genau vor unserem Wohnblock sowie oben auf dem bewußten Berg. Dort traf ich mich mit Bekannten und konsumierte vier Maß dieses süßlichen und 'hinterfotzigen' Getränks. Auf der Heimfahrt drehte sich die Straßenbahn ständig um mich, und am Ziel mußte ich erst einmal abwarten, bis der Wohnblock wieder vorbeikam. Ich ging dann schnell hinein und fiel die Treppe hinauf. Drei lange Tage war mir daraufhin sterbenselend, und ich nahm mir vor, mich nie wieder sinnlos vollaufen zu lassen. Dabei blieb es dann auch, ich trank künftig nur noch so viel, daß mir ein wenig schlecht wurde.


ISBN 3934785301