Nemzy - das Schicksal der Russlanddeutschen

Maria Eckhardt

Nemzy - das Schicksal der Russlanddeutschen

Nemzy - die Deutschen in Rußland

Ungefähr zwei Millionen Deutsche leben heute in der ehemaligen Sowjetunion. Sie heißen "Nemzy " - die Stummen. Sie sind bis heute oft aus nationalen, politischen und religiösen Gründen verfolgt worden. Schon vor Zeiten gab es Deutsche in Rußland, z. B. im 15. Jahrhundert eine Siedlung der deutschen Hansekaufleute in Nowgorod, in Moskau entstand im 17. Jahrhundert eine deutsche Vorstadt - die sogenannte "Nemezkaja Sloboda", in der mehrere tausend Deutsche und andere Westeuropäer friedlich neben den Russen, jedoch nach ihrem Glauben, ihrer Sprache und Kultur lebten. Ihre Blütezeit erlebte die deutsche Siedlung während der Regierungszeit des Zaren Peter I. Eine größere Einwanderung der Deutschen nach Rußland begann aber erst nach der Einladung der Kaiserin Katharina II. im Jahre 1763. Siedler sollten die Gebiete in der Ukraine, am Schwarzen Meer, an der Wolga erschließen.
Katharina II., im Jahr 1729 als Sophie von Anhalt-Zerbst geboren, heiratete 1745 Peter III. und regierte von 1762 bis 1796 als Zarin; sie gewährte in einem Manifest Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, staatliche Unterstützung bei der Umsiedlung, Befreiung vom Militärdienst, freie Religionsausübung, Schule und Kirche. Im Unterschied zu den Bauern in Deutschland und Rußland waren die Kolonisten keine Leibeigene sondern Freie. So kamen viele Deutsche aus Hessen, Franken, der Pfalz, Elsaß, Baden, Württemberg und Bayrisch-Schwaben; die Menschen hatten in ihrer Heimat während des Siebenjährigen Krieges (1756 - 1763) besonders schwer zu leiden. Zwischen 1763 und 1767 wanderten dementsprechend circa 8 000 Familien über Lübeck und die Ostsee nach Rußland aus. Viele von ihnen siedelten sich in der Nähe von St. Petersburg an, viele in der Nähe Saratows in den Wolgasteppen. Dort haben sie über 100 Kolonien gegründet. Zur Bewirtschaftung bekam jede Familie 30 Hektar Land.
Nach einem ausgearbeiteten Plan der Regierung sollte jede Familie bei der Ankunft ein Wohnhaus mit Nebengebäuden bekommen. Die Angekommenen fanden aber nur eine Wildnis vor, und Pfähle zeigten an, wo ein Dorf entstehen sollte. Überall fehlte es an Bauholz und Wirtschaftsgeräten. Zuerst mußten sich die Neuankömmlinge mit einfachsten Mitteln Erdhütten bauen, um sich vor der Witterung zu schützen. Manchmal dauerte es jahrelang, bis sie ein Haus fertigstellen konnten.
In den ersten Jahrzehnten waren große Schwierigkeiten zu überwinden. Infolge Krankheiten und klimatischer Bedingungen - im Winter sibirische Kälte und im Sommer tropische Hitze -, durch die Tiere der Wildnis und Räuber kamen Tausende ums Leben. Wegen der ständigen Bedrohung durch Überfälle waren die Siedlungen von Wällen umzäumt. Die Kolonisten konnten auf ihre Äcker nur bewaffnet und in größeren Gruppen gehen.
Trotzdem haben sie im Lauf der ersten 30 Jahre die ganze Gegend wirtschaftlich zum Blühen gebracht. Es war ihnen gelungen, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Die Menschen hatten viel zur Kultivierung beigetragen. Besonders in den Jahren 1801, 1804-1809, 1817, 1822-23 und 1827 wanderten Familien aus religiösen und politischen Gründen nach Rußland aus, um eine neue Heimat zu finden. Ebenso wie nach dem Siebenjährigen Krieg herrschte auch nach den Napoleonischen Kriegen (1896 - 1815) vielfach große wirtschaftliche Not. Hinzu kamen ständige Heeresdienste, ungerechte Verwaltung, politische und religiöse Unterdrückkung nicht nur durch fremde, sondern auch durch die eigenen Fürsten. Viele Familien kamen aus Württemberg, aus der Schweiz, aus Baden, der Bayerischen Pfalz, aus dem Elsaß, aus Preußen. Das Ziel war jetzt vor allem die Krim und die Gebiete westlich von Odessa. Ca. 10 000 Familien haben im Schwarzmeergebiet eine neue Heimat gefunden.
Ab 1804 sollten nur Landwirte nach Rußland kommen, die Erfahrung in Obst- und Weinbau, in Vieh- und Schafzucht hatten, die schuldenfrei, verheiratet und gesund waren. Wer in Rußland Land wollte, mußte ein Zeugnis vorlegen, daß er ein guter Landwirt sei und mindestens 300 Rubel Vermögen besäße.
Die russische Bevölkerung aber schaute mit Neid auf die Privilegien der Kolonisten, die vom Wehrdienst befreit waren. Sie hatten Angst vor einer Germanisierung. Zar Alexander III., der 1881 nach der Ermordung seines Vaters auf den Thron kam, hat diese Angst verstärkt. Der Generalgouverneur von Kiew, Ignatjew, schrieb in seinem Gutachten vom Jahr 1881, daß die "ausländische Kolonisation in Rußland keinen Nutzen bringt"; es sei Zeit, den Zustrom von Kolonisten aus dem Westen einzustellen und zu untersagen, sich kolonienweise niederzulassen. Das Verbot sollte in ganz Rußland gelten.
Mit der Zeit wurden die wirtschaftlichen Vorteile und Privilegien eingeschränkt. 1871 wurden als Folge des deutschen Sieges über Frankreich und der Gründung des deutschen Reiches die ursprünglich "für ewige Zeiten" gegebenen Privilegien aufgehoben, 1874 die allgemeine Wehrpflicht für die Kolonisten eingeführt. Wer unter den neuen Zuständen nicht mehr im Land leben wollte, konnte gehen, wohin er wollte. Aber das war für die Wolgabauern sehr schwer, weil sie sich im Laufe der Zeit eingelebt und eine neue Heimat gefunden hatten. Bis 1912 wanderten ca. 300 000 Rußlanddeutsche nach Argentinien, Brasilien und in die Vereinigten Staaten aus. Rußland war für die meisten Auswanderer Heimat geworden, obwohl sie ihre frühere Heimat nie vergessen hatten.
Im Gegensatz zu den Deutschen, die in die USA auswanderten, wollten die Rußlanddeutschen ihr Volkstum nicht aufgeben, sondern auch in der neuen Heimat deutsch bleiben und ihre Kultur an die folgenden Generationen weitergeben. Aus ca. 100 000 Einwanderern entwickelte sich in 150 Jahren eine Volksgruppe von 1,7 Millionen Deutschen (Volkszählung 1914). Die Deutschen in Rußland hatten einen Grundbesitz von 13,4 Millionen Hektar, das sind ca. 134 000 km2 (mehr als die frühere DDR).
Die planmäßige Vernichtung der deutschen Kultur fing mit Ausbruch des 1. Weltkrieges an, obwohl ca. 300 000 Deutsche in der russischen Armee dienten. In der Öffentlichkeit wurde die deutsche Sprache verboten, Versammlungen durften nicht mehr abgehalten werden, deutsche Schulen und Kirchen wurden geschlossen. Rußland kämpfte nicht nur gegen Deutschland, sondern auch gegen das Deutschtum im eigenen Land.


ISBN 3927966371