Ich durfte überleben

Hans Mayer (Hg.)

Ich durfte überleben

Ein Geschichtsbuch persönlicher Erinnerungen

60 Jahre nach Kriegsende wird es immer schwieriger, Menschen zu finden, die die Zeit des Nationalsozialismus als Erwachsene miterlebt haben und von ihren Erlebnissen berichten können. Bald wird das etwas sein, was auch die Älteren in Deutschland nur noch aus Büchern kennen oder aus den Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern - vorausgesetzt, diese wurden nach ihren Erinnerungen gefragt. Denn öfters verspüren die Jüngeren Überdruss oder Widerwillen gegen „Opas ständige Kriegsgeschichten“. „Geschichtsbuch persönlicher Erinnerungen“ kommen Menschen zu Wort, deren Leben von Krieg und Naziherrschaft geprägt worden ist. „Ich durfte überleben“ lautet der Titel und ist eine Fortsetzung des 2002 erschienenen Bandes „Erlebte Geschichte“. Die (überwiegend) Männer, die hier zu Wort kommen, wurden alle in den 20er Jahren geboren, stammen aus Traunstein oder der Region Oberbayern und waren entweder als junge Soldaten noch direkt am Krieg beteiligt oder sind als Halbwüchsige in das Geschehen hineingezogen worden. Illustriert von zeitgenössischen Fotos berichten die Personen mal mehr, mal weniger ausführlich, woher sie und ihre Familien stammen und was ihnen widerfahren ist. Unter den spannenden Geschichten sind zum Teil unglaubliche Erlebnisse, wahrheitsgetreu erzählt und zweifelsfrei bezeugt. Da ist zum Beispiel Simon Fischer, der erzählt, wie er als 20Jähriger in russische Gefangenschaft geriet und seine eigene Erschießung und damit den sicheren Tod überlebt; sein Bericht ist unbestritten ein Höhepunkt des Buches. Den meisten Berichten liegen mündliche Erzählungen zugrunde, die schriftlich festgehalten wurden. Dabei gehört es zum Prinzip, dass der Herausgeber diese nicht stilistisch glättet oder „hochsprachlich“ vereinheitlicht, sondern immer die Individualität des Erzählers wahrt. Als Leser muss man sich dabei anfangs vielleicht an eine manchmal etwas unbeholfen wirkende Erzählweise gewöhnen, doch schon bald erkennt man den hohen Wert, der in einem solchen authentischen Textzeugnis liegt. In zwei Fällen berichten nicht Zeitzeugen, sondern ihre während oder nach dem Krieg geborenen Söhne bzw. Nichten, die auf bewundernswerte Weise eine zum Teil sicher sehr quälende Erinnerungsarbeit geleistet haben. Da ist zum einen die Familiengeschichte eines Traunsteiners und seines Sohnes, des Spätaussiedlers Johann Wandler, 1943 in der deutschen Siedlung Rastatt (heute in der Ukraine) geboren. Es ist ergreifend zu lesen, wie der Sohn nach 25 Jahren plötzlich aus Deutschland ein Lebenszeichen seines totgeglaubten Vaters erhält und wie neun weitere Jahre vergehen, bevor sich die beiden schließlich in Traunstein leibhaftig gegenüberstehen. In dieser Geschichte spiegelt sich nicht nur das Schicksal der Deutschen in Russland unter Stalin wider. Alle „Einheimischen“, die die nach Deutschland kommenden Spätaussiedler für „Russen“ halten und ihnen oft verständnislos begegnen, sollten diesen Bericht lesen, um zu verstehen. In einem anderen Text, von sicherer Hand selbst geschrieben, schildert Doris Fürstenberg, wie sie als junges Mädchen 1967 von ihrem Onkel erfährt, dass er im Krieg als Angehöriger eines Polizeibataillons in Polen Juden erschossen hat. Was die 15Jährige über die persönliche Betroffenheit hinaus erkennt, erkennen muss, wiegt schwer. Sie weiß, dass Täter nicht anonym sind und „sie heißen nicht nur Hitler, Himmler, Göring und Heydrich ... Täter heißen auch Onkel Paul“. Was folgt, ist eine Rekonstruktion des Werdegangs dieses Mannes. An deren Ende steht ein Bericht, geschrieben aus historischer Distanz, aber voll lebendiger Gegenwart und faszinierend zu lesen. Der Onkel starb im hohen Alter 1993. „Ich durfte überleben“ - dieser Satz gewinnt hier eine ganz eigene Dimension.


ISBN 3934785190